Es gibt eine unschätzbar kostbare Konstante, die sich durch mein ganzes Leben zieht und meine Vergangenheit und meine Zukunft mit einem wunderschönen, langen roten Faden verbindet. Die Freude am Selbermachen – heute ganz trendig „DIY“, also „do it yourself“ betitelt.
Meine Großmutter hätte mit diesem Begriff so gut wie gar nichts anfangen können. Denn ihr „Selbermachen“ war eine unabdingliche Lebensnotwendigkeit. Stellte doch ihre gesamte Haushaltsführung ein einziges, von Hand gemachtes „do it yourself“ dar. Von unseren heutigen, supermodernen Haushaltsroboterchen konnte sie noch nicht einmal träumen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Schweiß treibendes Wäschewaschen im heißen Dampf der Waschküche, mühseliges Teppichklopfen, Heizen von Öfen und Kohleherd, aufwendiges Einkochen von Gemüse und Obst, Stopfen, Flicken, Plätten und der tägliche Abwasch auf der Hitliste ihrer Wünsche zur kreativen Selbstverwirklichung stand. Von den unvorstellbaren Erschwernissen des Lebens und Überlebens in zwei Weltkriegen mit Not, Leid, Angst und Hunger ganz zu schweigen.
Und doch gab es für meine Großmutter einen Zeitausschnitt – noch zu „Kaisers Zeiten“ in Berlin, in denen sie schöpferisch und höchst kreativ tätig sein durfte. Während ihrer Ausbildung zur Putzmacherin entstanden sensationelle Kreationen, von denen sie einige an Tagen mit „Kaiserwetter“ sicherlich hin und wieder mal stolz auf dem Kopf trug und „Unter den Linden“ spazieren führte.
Ich weiß leider nicht, ob die Schöpfung dieser hinreißenden Gebilde für die Damen der Gesellschaft ihre Kreativität beflügelt hat und bezweifle auch, dass dieses „Selbermachen“ eine Art Therapie, wie es heute oft heißt, für sie darstellte. In erster Linie war es wohl nötiger Broterwerb.
In meiner Erinnerung ist ihr allerdings Zeit ihres Lebens die Freude an schönen Stoffen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein gewisser, eleganter Kleidungsstil erhalten geblieben. Trug sie doch bis ins hohe Alter zu vielen Gelegenheiten modische Hüte und wenn es zum Anlass passte, auch gerne Spitzenhandschuhe und fein abgestimmte Accessoires, die ihren persönlichen Stil unterstrichen. Wie schön und bereichernd für sie, dass sie einige schöpferische Inspirationen aus lange vergangenen Jugendtagen trotz großer persönlicher Belastungen und Verluste für sich bewahren konnte.
Sehr intensiv verwoben ist mein „roter Faden“ mit dem Leben meiner Mutter. Als junges Mädchen hatte sie das Glück, in einem renommierten Modehaus eine Lehrstelle ergattern zu können. Hier lernte sie neben hochkarätigem Schneiderhandwerk auch die Eleganz und Klasse der jeweils angesagten Moderichtung kennen.
Ausgestattet mit dem erworbenen Können war für meine Mutter das Nähen von Bekleidung für sich selbst und ihre beiden Mädchen eine Selbstverständlichkeit, die sie mit „Spaß an der Freude“ erfüllte. Von den niedlichen, winzigen Kleidchen der ersten Lebensjahre über den artigen Einschulungsdress mit weißem „Bubikragen“, dem schneeweißen, braven Kommunionkleid mit dem handgesmokten Bolero-Oberteil bis zum schicken Tanzstundenkleid für den Abschlussball – nichts war ihr zu aufwendig oder kompliziert. Im Gegenteil, sie platzte vor Stolz, wenn ihre Mädels einen hübschen, modischen Anblick boten und ihre Kreationen gerne vorführten.
Noch heute ist mir das Klack-klack ihrer fußbetriebenen Singernähmaschine im Ohr und die Entschlüsselung des bunten Wirrwarrs auf den Schnittbögen der Modezeitschriften stellte für mich eine ungeheure Faszination dar. Dass die mit dem lustigen Rädchen ausgerädelten Zeitungspapierbögen eine Vorlage für ein Kleid für mich sein sollten, war einfach nur Magie.
Lange Zeit, bis zum ersten eigenen „Geldverdienen“, war ich durch Mutters „Hobby“ – eigentlich ein komisches Wort im Zusammenhang mit ihrem Können – immer gut und dem Zeitgeist entsprechend gekleidet. In welchen langen Abendstunden sie fleißig und unermüdlich genäht und gewerkelt hat, ist mir als Kind nicht bewusst gewesen, hatte sie doch auch ein großes Haus in Ordnung zu halten und den Haushalt mit den ihrem Anspruch entsprechenden Erfordernissen zu führen. Danke Mama, dass du den roten Faden so geschickt, feinfühlig und akkurat weitergesponnen hast.
Umgarnt von einem freundlichen, liebevollen Netz weiblicher Kreativität ist mir ein dickes Paket aus Freude am Selbermachen, Werkeln und Basteln (ach, wie altmodisch…), ich meine natürlich „DIY“ – in die Wiege gelegt worden. Und ich bin den wunderbaren Frauen meiner Familie sehr dankbar, dass sie mir die Freude am schöpferischen Tun wie eine kleine Verheißung geschenkt haben. Denn nichts macht mich glücklicher und hat mich auch durch dunkle Stunden geführt, als die Selbstwirksamkeit der kreativen Schöpfung. Geist und Hände sind in Bewegung und ich vergesse Zeit und Raum – bin im „flow“!
Im Gegensatz zum oftmals mühevollen Alltag von Müttern und Großmüttern dürfen wir ja heute den Luxus von Wasch- und Spülmaschine, Trockner, Staubsauger, rasantem Induktionsherd und dem Alleskönner Thermomix genießen und können daher unbekümmert die gewonnene Freizeit dem kreativen Schaffen in Muße widmen.
Die „stoffliche“ Welt, die mich als Kind umgab, hat sich für mich in der Begegnung mit dem Wort „Quilt“ zu einer besonderen Leidenschaft entwickelt.
Die unglaubliche Fülle der auf diesem Gebiet angebotenen Stoffe, die hinreißenden Muster- und Farbensymphonien, die sensationellen Qualitäten, die künstlerische Vielfalt der Quilterinnen around the world, unzählige traumhafte Ausstellungen und Präsentationen, sowie die Historie des Quilts – all das hat mich vollends begeistert und bis heute nicht losgelassen. Meine Welt, mein Leben ist durch „Quilts“ in einer ungemein bereichernden Dimension bunt und abwechslungsreich geworden. Ich konnte über einen langen Zeitraum fast komplett darin abtauchen, sozusagen in Farbe und Stoff baden!
Der große Stapel fertiger Quilts in meinem Zuhause entlockt mir jedes Mal ein kleines, zufriedenes und auch ein bisschen stolzes Lächeln. Sie werden heftig genutzt und geliebt und viele sind zu begehrten Geschenken in der Familie und im Freundeskreis geworden, wo sie zu lebensbegleitenden Lieblingsstücken avanciert sind. Die „eingenähten“ Erinnerungen verbinden mich mit freudigen Stationen meines Lebens und vielen, vielen heiteren Begegnungen mit außergewöhnlich begabten, höchst kreativen Quilt- und Textilkünstlerinnen.
Dass mein Zuhause ein „Moodboard“ für die verschiedensten Projekte der Gestaltung von Heimtextilien, in traditioneller Faßmalerei bemalter und restaurierter Möbel, Aquarellen, Zeichnungen, Collagen und Fotografien ist, schafft mir eine farbenfrohe, behagliche Bühne im Gegensatz zum oftmals tristen Mainstream.
Als besonderes Glück empfinde ich, dass ich eine große Portion Kreativität an meine jüngere Tochter weiterreichen konnte. Sie hat mit dem Studium der Bekleidungstechnik den wunderbar langen, roten Faden, den ihre Urgroßmutter schon in den Händen hielt, aufgenommen und kraft ihrer Begabung wird er von ihr modern und zukunftsweisend weiter gesponnen. Im beruflichen Bereich überzeugt sie innovativ und dynamisch mit der Produktentwicklung von hochwertiger Berufsbekleidung für die unterschiedlichsten Herausforderungen und Ansprüche technischer Arbeitswelten.
Als Kontrastprogramm nutzt sie ihre breitgefächerte Kreativität für das Entwerfen grafischer Erzeugnisse für ihr kleines Internet Start-up „SchwabenEmma“, die Tante Emma Papeterie für Gruß- und Postkarten, Geschenkpapier, Poster und vieles mehr. Darüber hinaus ist sie mit „julefine – Feines Design“ erfolgreich in der Konzeptentwicklung anspruchsvoller Portfolios, sowie attraktiver Mustervorlagen für Textil und Papeterie.
Ich bin sehr gespannt, wohin „mein“ fabelhafter, roter Faden sich in der Zukunft schlängeln wird, wer mit ihm an der langen, kreativen Geschichte der Frauen meiner Familie weiterspinnt, welche großen und kleinen, farbenfrohen und hinreißenden, selbstgemachten Schöpfungen in seiner Begleitung entstehen.
Ich wünsche allen, dass es ihnen vergönnt ist, dem als beglückend erlebten Gefühl durch kreatives Schaffen viel Raum in ihrem Leben einräumen zu können.
Und schon wieder ist die Zeit im „flow“ verflogen, im wahrsten Sinne über ein Jahrhundert hinweg…
eure Evelyn
Hoffend Leben
Fein gewoben mein Lebensfaden
verbindet untrennbar mein Heute
mit dem Gestern und Morgen
führt voran durch Daseinsschluchten
und karge Tage auf sonnige Wiesen
zu strahlenden Glücksgipfeln
sicher verzwirnt und fest
einzigartig mir geschenkt –
seine Farbe ist G R Ü N.
– Maria Sassin –